- Literaturnobelpreis 1960: Saint-John Perse
- Literaturnobelpreis 1960: Saint-John PerseDer französische Schriftsteller erhielt den Nobelpreis »für die bildschöpferische Fantasie seiner Dichtung, die die Zeitlage in visionärer Weise widerspiegelt«.Saint-John Perse (eigentlich Marie-René-Alexis Saint-Léger), * Saint-Léger-les-Feuilles (Guadeloupe) 31. 5. 1887, ✝ 20. 9. 1975 Giens (Frankreich); 1916-21 diplomatischer Dienst an der französischen Botschaft in Peking, 1925-32 Ministerialdirektor unter Aristide Briand, 1932-40 Staatssekretär im französischen Außenministerium, 1940 Emigration in die USA, ab 1950 freier Schriftsteller.Würdigung der preisgekrönten LeistungDie Verleihung des Literaturnobelpreises an Saint-John Perse für die bahnbrechende Wirkung seiner assoziationsreichen Lyrik bedurfte einiger Überwindung seitens des Nobelkomitees. Einerseits erfüllte er den Anspruch des Pioniers, andererseits schien er zu esoterisch und schwer verständlich für eine Massenwirkung zu sein.Bewahrer und ErneuererFür Anders Österling, den Ständigen Sekretär der Schwedischen Akademie, war Perse einer »der bedeutendsten Wegweiser der modernen Poesie, der eine grandiose Linie in der französischen Dichtung, vor allem der rhetorischen Tradition ihrer Klassiker, vollendet«. Da Perse als »formaler Neuschöpfer«, »Erneuerer« und zugleich »Bewahrer« der lyrischen Tradition Frankreichs galt, konnte das Komitee ihn als deren »führenden, lebenden Vertreter« ehren. Damit wollte es das Versäumnis wieder gutmachen, dass »Claudel und Valéry ohne Preis dahingegangen sind«.Perse gehörte zu den schwer zugänglichen Dichtern, und man hegte Vorbehalte, dass die »unerschöpfliche Bildersprache seiner Rhapsodien gerade durch die konzentrierte Anstrengung ermüdend wirken kann, die der Dichter seinem Leser abverlangt«. Allerdings bezeichnete Österling Perses Werke als »höchst eigenartige, sprachlich und gedanklich komplizierte Schöpfungen«. Er verharre jedoch nicht in Selbstgenügsamkeit, vielmehr sei seine Dichtung »ein Ausdruck des menschlichen Seins, das in seiner Vielfalt und Dauer erfasst ist, und des ewig Schöpferischen im Menschen, wie es durch die Zeiten hindurch mit dem ebenso ewigen Widerstand der Elemente kämpft«.Zwei Seelen in einer BrustDas merkwürdige Pseudonym, das sich Marie-René-Alexis Saint-Léger zulegte, ist seiner eigenen Auskunft zufolge auf eine poetische Eingebung zurückzuführen. Im Namen seien die englische Antilleninsel Saint-John und die Wiege der antiken Zivilisation, Persien, miteinander verschmolzen. Auch mag sein Dienst als Diplomat und Politiker sowie die damit einhergehende Angst, zu viel von seiner Persönlichkeit preiszugeben, ihn dazu bewogen haben, die beiden Seiten seiner Persönlichkeit — den tatsachenorientierten Staatsmann und den mystischen Dichter — beharrlich zu trennen.Seine Kindheit verbrachte Saint-John Perse frei und glücklich in der tropischen Natur des kolonialisierten Guadeloupe, auf der Insel Saint-Léger-les-Feuilles, die seiner Familie gehörte. Sein Vater war als Anwalt tätig, die Zuckerrohr- und Kaffeeplantagen gehörten seinem Onkel. Die frühen Kindheitserfahrungen hatten großen Einfluss auf Perses dichterisches Werk. Die Rückkehr nach Frankreich mit seinen Eltern im Jahr 1899 kam für ihn der Vertreibung aus dem Garten Eden gleich, wie seine Sammlung mit dem Titel »Preislieder« bezeugt. Perse studierte an der Universität von Bordeaux Rechtswissenschaften, interessierte sich aber auch für Philosophie, klassisches Versmaß und zeitgenössische Musik. In Pau stieß er zur Literatengruppe um die »Neue Französische Zeitschrift«, der Léon-Paul Fargue, Valéry Larbaud, Jacques Rivière und André Gide (Nobelpreis 1947) angehörten. 1909 schrieb er, im Anklang an seine in den Tropen verbrachten Jugendjahre, Gedichte über Robinson Crusoe.Im Jahr 1916 begann Perse seine berufliche Laufbahn als diplomatischer Sekretär der französischen Botschaft in China. Seine Reisen führten ihn auch in die benachbarten Länder und in die Wüste Gobi, die großen Eindruck auf ihn machte. Er bezeichnete sie als Schattenseite des Meeres, als Ort, an dem man als Mensch und Poet sein Exil verbringe. Neben seinem diplomatischen Dienst entstand das epische Werk »Anabase«, die erste Veröffentlichung unter seinem Pseudonym (1924). Das im Allgemeinen als sein Hauptwerk bezeichnete Buch ist eine metaphernreiche Schilderung einer Militärexpedition aus der Perspektive eines Nomadenführers. In losen Bildern wird die nach außen gerichtete Aktivität des Menschen und nach innen gerichtete Bewegung seines Geistes betrachtet. Perse hebt die kraftvolle Macht der Träume, den menschlichen Willen zur Transzendenz und das Bedürfnis des Menschen hervor, die äußere Welt kontrollieren zu wollen. Er wählte für das Werk die Prosaform. Im epischen Ton einer vom Alltag abgesetzten Sprache preist es in fast hymnenartigen, mythischen Gesängen eine faszinierende, andersartige Welt.Von 1925 bis 1932 arbeitete Perse als Ministerialdirektor unter dem französischen Außenminister Aristide Briand, danach als Generalsekretär im Auswärtigen Amt. Als entschiedener Gegner der Nachgiebigkeitspolitik gegenüber Hitler wurde er 1940 von der Vichy-Regierung entlassen, die französische Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt. Daraufhin emigrierte er in die USA. Drei Jahre später erschien der Gedichtband »Exil«. Darin beschreibt Perse die Vergänglichkeit, die hinter allem steht. Sein nächster Gedichtzyklus »Winde« (1946) hingegen hat die Erneuerung zum Thema.Perses Dichtung ist kosmisch, der Reichtum an Bildern verwirrt den Leser, die psalmengleich modellierte Sprache erstaunt und fasziniert ihn. Die ruhelose Metrik erzeugt die gewollte Bewegung, die auch Perses Gestalten und das von ihm vielbesungene Meer prägt: »Das Meer ist besessen von unsichtbaren Abreisen.«Perse war ein Einzelgänger, der sich keiner geistigen und literarischen Strömung angeschlossen hat. Dennoch wirken in seiner Dichtung Elemente des Surrealismus, des Impressionismus und der Dichtung Paul Claudels, deren metrische Form, den »verset«, Perse übernahm. Seine rhythmische Dichtung, die sich auf Arthur Rimbaud zurückführen lässt und in der er mit bewusster Verachtung für logische Zusammenhänge Widersprüche vereinte, hatte auf Lyriker wie Paul Celan, Stephan Hermelin und Karl Krolow großen Einfluss. Dem breiten französischen Publikum blieb er jedoch unbekannt, dagegen schätze ihn das angloamerikanische sehr. Es wundert daher nicht, dass ihm mehr internationale als nationale Ehrungen zuteil wurden. Thomas Stearns Eliot (Nobelpreis 1948), der »Anabase« ins Englische übersetzte, verglich Perse sogar mit dem späten James Joyce.Die problematische Stellung Perses in Frankreich spiegelt sich darin wider, dass die Regierung nicht einmal einen offiziellen Repräsentanten zur Verleihung entsandte und keine Glückwünsche schickte. Perse betrachtete den Nobelpreis nicht als persönliche Ehrung, sondern nahm ihn stellvertretend für die Dichtung, der in der heutigen Zeit eine revolutionäre Funktion zukäme, mit den Worten entgegen: »Dichter ist, wer für uns mit der Gewohnheit bricht.«B. Rehbein
Universal-Lexikon. 2012.